11 Gründe warum kaum jemand in Indien Straßenkinder unterrichtet

Die Pläne mit der Gründung unseres Lernzentrums für Straßen gehen gut voran – dazu ein ander Mal mehr. Es ist allerdings wirklich schwer in unserer Einmillionenstadt irgendeine Institution oder einen Verein zu finden, die tatsächlich langfristig mit Straßenkindern arbeiten möchte. Ein Freund von mir, der selbst ein Internat für hochbegabte sozial schwache Kinder aufgebaut hat, meinte folgendes: “Die meisten schrecken davor zurück, weil die Kosten sowie die mentalen und emotionalen Herausforderungen der Arbeit extrem hoch sind. Gleichzeitig ist die Erfolgsrate sehr niedrig ist”. Dem können wir nur zustimmen, denn unserer Erfahrung nach liegt der Anteil der lernschwachen Kinder bei über 80 Prozent. Man wäre bei 100% wenn man ihr wirkliches Alter zu Grunde legen würde, denn die meisten Kinder mit drei Jahren sind auf dem physischen Entwicklungsstand von Einjährigen. Hier sind einige Gründe, weswegen viele Vereine davor zurückschrecken, langfristige Projekte für Straßenkinder aufzubauen:

  1. Straßenkinder müssen länger beschult werden. Auf Grund der Mangelernährung leiden Straßenkinder unter Entwicklungsverzögerungen, die zu Lernschwierigkeiten oder -behinderungen führen. Meist brauchen unsere Kinder für die zweijährige Vorschule mindestens 4 Jahre und müssen auch später oft Klassen wiederholen. Das heißt, dass NGOs weniger “Erfolgserlebnisse” vorzuzeigen haben, und die Klassen sich über die Jahre eher pyramidenhaft entwickeln. Viele Kinder besuchen die Vorschule, nur sehr wenige die oberen Klassen.
  2. Straßenkinder sind oft krank. Alle Straßenkinder wachsen mangelernährt auf. Ihre Ernährung besteht hauptsächlich aus Reis und wässriger Linsensuppe. Gemüse gibt es nur zerkocht und in kleinsten Mengen. Die meisten Straßenfamilien ernähren sich nicht vegetarisch, sondern essen regelmäßig Reste, die beim Hühnerzerlegen anfallen (Hühnerfüße, Haut, Hühnerdarm). Durch die unhygienischen Zustände auf der Straße leiden alle Kinder regelmäßig an Durchfall und anderen diversen bakteriellen Erkrankungen. Malaria, Tuberkulose, oder Krätze sind nur einige Krankheiten, die regelmäßig auftreten. Wer mit Straßenkindern arbeitet, muss ihnen regelmäßige medizinische Versorgung ermöglichen. Auch in der Schule selbst braucht es die Möglichkeit, kranke Kinder zu betreuen, z.B. indem Rückzugsmöglichkeiten für Kinder mit Fieber oder Durchfall bereitgestellt werden.
  3. Man muss sich um jedes einzelne Kind aktiv bemühen, ansonsten werden sie die Schule vorzeitig verlassen. Nur die wenigsten Straßenkinder schaffen es, sich alleine morgens für die Schule zurecht zu machen. Oft sind die Eltern noch verkatert oder uninteressiert. Kaum jemand auf der Straße kann die Uhrzeit lesen, d.h. pünktliches Erscheinen in der Schule ist nicht machbar. Statt dessen muss die NGO selbst Personal auf die Straße schicken um die Kinder zu begleiten. Viele Kinder ziehen mit ihren Familien auch zeitweise wieder zurück auf’s Dorf oder in andere Städte, z.B. während bestimmter Feiertage. Wenn die Kinder dann nach Wochen oder Monaten wieder vor Ort sind, muss man sich erneut um sie bemühen da sie schon wieder vergessen haben, wie es war, ein strukturierteres Leben zu führen.
  4. Unterricht allein reicht nicht. Wer mit Straßenkindern arbeitet, weiß, dass der Unterricht erst dann erfolgreich sein wird, wenn die grundlegenden anderen Bedürfnisse gedeckt sind. Straßenkinder brauchen zu allererst ein Frühstück und die Möglichkeit, sich zu säubern, ihre Haare von Läusen zu befreien und ihre Kleidung gegen die Schuluniform zu tauschen.medizinische und psychologische Betreuung. Natürlich braucht es dann auch ein Mittagessen und nach der Schule die Möglichkeit, zu schlafen. Viele Kinder von der Straße haben Schlafprobleme. Und da die Eltern meist Analphabeten sind und wenig Interesse an Bildung haben, braucht es auch gesonderte Hausaufgabenbetreuung.
  5. Die eigene Familie sowie der Freundeskreis werden zu den größten Hindernissen auf dem Weg zu einer Schulbildung. Je älter die Kinder werden, desto größer wird der Druck von Freunden und Familie, die Schule zu verlassen. Mädchen sollen auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen, auch wen nsie selbst erst sechs oder sieben Jahre alt sind. Außerdem möchten viele Mütter, dass ihre Töchter sie beim Betteln begleiten, weil das mehr Geld bringt. Jungs wiederum sind mit 8 oder 9 Jahren oft schon abhängig von Kautabak (Surti oder Gutka) und sammeln Müll, um dieser Sucht nachgehen zu können. Spätestens mit 13 oder 14 Jahren werden Eltern dann oft noch stärker in ihrer Forderung, endlich Geld zu verdienen und zum Unterhalt der Familie beizutragen. Der Druck der Peergroup, die oft aus Schulverweigerern oder -abbrechern besteht, ist ähnlich hoch – fast jeder Jugendlicher gehört einer Art Gang an. Sich da herauszuhalten erfordert viel Willenskraft.
  6. Straßenkindern fehlt es an Lernmotivation. Da viele Kinder von der Straße nur sehr langsam im Unterricht vorankommen, werden sie mit ihrem eigenen Versagen ständig konfrontiert. Das wiederum ist schwierig für ihre Lernmotivation – auch, wenn man das Wiederholen nicht als Versagen verbalisiert. Sie sehen, wie andere Kinder weiterkommen und sie nicht und bekommen mit den Jahren immer mehr das Gefühl, dass sie zu dumm sind. Viele Jugendliche entwickeln eine “Egal”-Haltung, um mit diesem Versagen umzugehen und verlassen die Schule eher früher als später. Die wenigsten NGOs sind in der Lage, Lernumgebungen zu schaffen und langfgristig zu erhalten, in denen Kinder ohne Versagenserlebnisse beschult werden können.
  7. Straßenkinder sind meist gewalttätig. Durch die vielfältigen physischen und psychischen Gewalterfahrungen, die die Kinder zu Hause machen, besteht ein beträchtlicher Anteil der Lern- und Lernarbeit im Managen von Konflikten – die fast immer mit den Fäusten ausgetragen werden. Peer-Mediations-Programme und das Üben gewaltfreier Kommunikation in der Schule können dem Abhilfe schaffen. Allerdings verfügen NGOs oft nur über schlecht ausgebildetes Lehrpersonal, das der Gewalt, die von den Kindern ausgeht, selbst nur Gewalt entgegensetzen kann.
  8. Ohne Internat schaffen Straßenkinder es nicht über die Grundschule hinaus. Die Lehrerinnen können sich noch so kindzentriert und liebevoll um die Straßenkinder kümmern – der Druck, der von den Familien ausgeht, ist größer. Spätestens wenn die Mädchen 13 oder 14 sind, beginnen die Eltern, von Heirat zu reden. Bereits vorher wird von den Mädchen erwartet, auf die jüngeren Geschwister aufzupassen, Wäsche und Geschirr zu waschen, zu kochen. Die Jungs, aber auch viele Mädchen, sind mit spätestens zehn Jahren abhängig von Kautabak und suchen daher nach Einkommensquellen, um diesen zu bezahlen. Bei den Jungs ist das meist Müllsammeln, bei den Mädchen Betteln. Die Kinder brauchen einen sicheren Ort, an dem sie leben und lernen können. 24/7.
  9. Der Anteil von Kindern mit psychischen und entwicklungsbedingen Störungen ist enorm hoch. Unsere Erfahrung, die wir aber noch nicht empirisch belegen können, ist es, dass bei ALLEN Straßenkindern psyschische Störungen auftreten. Eine Auswahl, die definitiv nicht vollständig ist: Bindungs- und Angststörungen, Borderlinesyndrom, posttraumatische Belastungsstörungen, Lernbehinderungen, Deppressionen. Die Mehrzahl der Jugendlichen auf der Straße ritzt sich, ich persönlich kenne kein einziges Straßenkind, das sich noch nie selbst verletzt hat.
  10. Straßenkinder sind oft Dalits. Dalits sind Inder, die nicht zu einer durch die Geburt bestimmten vier Hauptkasten gehören und früher als “unberührbar” galten. Offiziell ist das Kastensystem abgeschafft, aber das Wort “unberührbar” hören unsere Kinder im Alltag dennoch regelmäßig. Die Diskriminierung, der sie ausgesetzt ist, ist real und durchzieht ihr Leben. Ein höherer Polizeibeamter hat mir einmal davon abgeraten, mit “diesen” Leuten zu arbeiten, weil sie eigentlich gar keine Menschen seien, sondern Tiere. Sie in die Schule zu schicken, helfe eh nicht. Was das für das Selbstbild ausmacht, können wir uns kaum vorstellen.
  11. Die Erfolge sind weniger sichtbar. Geschätzt schaffen es 90% der Straßenkinder nicht, die Schule fertig zu machen. Dies ist eine Misserfolgsrate, die extrem demotivierend sein kann für Spenderinnen – und sie ist noch schwerer zu ertragen für uns, die wir die Kinder persönlich kennen. Allerdings gibt es intergenerationale Effekte, die wir gerade erst zu sehen bekommen: Viele unserer ehemaligen Schüler/innen haben bereits eigene Kinder. Im Gegensatz zu frühreren Generationen wollen sie alle, dass ihre eigenen Kinder auf jeden Fall zur Schule gehen. Außerdem gibt es viele junge Erwachsene auf der Straße, die für sich klar entschieden haben, nur zwei oder drei Kinder zu haben. Bislang waren Familien mit bis zu 9 Kindern Normalität auf der Straße (mit einer Kindersterblichkeit von mindestens 15%). Auch dies ist ein Erfolg, den wir erst in einigen Jahrzehnten wirklich messen werden können.
  12. Die Kosten sind oft mehr als doppelt so hoch als für “normale” Schulen. Alles in allem kann man festhalten: Es ist viel teurer, Straßenkinder zu unterrichten, als andere Kinder, und man hat viel weniger Erfolg damit.

Lohnt es sich dann überhaupt, das viele Geld in ein Lernzentrum zu stecken? Ist es nicht eine Verschwendung von Resourcen? Ich persönlich finde: Nein. Die positiven Langzeitfolgen von wenn auch nur kurzfristigem Unterricht können wir bislang nicht abschätzen. Die Jugendlichen widerum, die es geschafft haben und jetzt am Gymnasium oder einer Uni sind, oder die eine Ausbildung machen, die würden sicher stark widersprechen. Und sie sind es immerhin, die irgendwann unsere Arbeit weiterführen und als Multiplikatoren tätig werden sollen.

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